Wider das Vergessen von Quinquina – Cocchi Americano

Der Fall scheint klar. Kina Lillet ist Geschichte. Verlorengegangen durch den Zeitgeist. Denn der süße, bittere Aperitifwein wurde 1987 das letzte Mal produziert und zugunsten des leichteren, floraleren Lillet Blanc ersetzt, der sich besser verkaufen sollte.

Was war Kina Lillet? Das Produkt aus dem Hause Lillet Frères aus dem französischen Podensac (Gironde) ist ein ausgebauter Weißwein. Lillet wird in Fässern aus Limousin-Eiche zusammen mit Kräutern und Früchten gelagert. Dazu gehörte insbesondere Quinquina, oder Chinin, die Substanz aus dem Chinarindenbaum, die schon seit ca. 1820 als Mittel gegen Malaria und Fieber genutzt wurde.

Kina Lillet war auch ein Produkt, dessen Geschmack unersetzbar für viele Klassiker wie den Twentieth Century Cocktail, den Vesper, den Corpse Reviver #2 oder den Culross Cocktail war und ist. Der Ersatz, Lillet Blanc, war wohl eher der Not und der Namensähnlichkeit geschuldet, und weniger dem Geschmack.

Lillet Frères ist – oder viel besser war – nicht der einzige Hersteller von Quinquinas, also mit Chinarinde ausgebauten Weinen. Zum Beispiel produzieren auch St. Raphael, Bonal und Byrrh Chininweine. Byrrh ist ein Chinarindenwein auf Basis der roten Carignan-Traube; Bonal, ein ausgebauter Weißwein, mit großem Enziananteil. St. Raphael wiederum produziert sowohl einen ausgebauten Weiß- als auch einen ausgebauten Rotwein mit Chinarinde.

Trotzdem, durch die jeweils verschiedenen Trauben, Gewürze und der Lagerung im Fass schien Kina Lillet verschollen – und bleibt es bis heute.

Wäre da nicht Erik Ellestad, seines Zeichens Bartender aus San Francisco. Er entdeckte Cocchi Americano, einen ein Jahr lang gelagerten Chinarindenwein aus Moscato d’Asti in Italien, der dort seit 1891 hergestellt wird. Der Vergleich mit einer gut gelagerten Flasche Kina Lillet zeigte frappierende Übereinstimmungen.

Während in den USA daraufhin die Nachfrage massiv anstieg und mittlerweile Haus Alpenz den Import des Produkts übernommen hat, blieb man in Europa skeptisch. Kaum ein Bartender nahm es auf sich, das unbekannte Produkt ernsthaft zu testen – mit der Ausnahme von Jay Hepburn, dessen exzellenter Beitrag aber mangels Verfügbarkeit von Cocchi Americano kaum Nachahmer fand.

Mittlerweile ist Cocchi Americano günstig und relativ einfach verfügbar.  Und es lohnt sich. Versprochen.

Der Cocchi Americano zeigt sich in der Nase verblüffend fruchtig. Schwere Orangensüße und leichtere Zitrusnoten kombinieren sich mit weihnachtlichen Aspekten, die vom Zimt herrühren. Der Geschmack ist süßer und viel bitterer als Lillet Blanc, dominiert von Chinin.

Freudig, nun gleich in die Tiefen längst historischer Geschmäcker abzutauchen, mische ich 4,5 cl Plymouth Gin, 2 cl Cocchi Americano, 2 cl Marie Brizard Creme de Cacao Blanc und 2 cl Zitronensaft und bin mehr als beeindruckt. Verflogen ist all die Leichtigkeit des Lillet. Chininnoten auf der Zunge, ab und an stößt eine kräftige Kakaonote durch, ein leichtes Säureflimmern am Gaumen. Ich bin beeindruckt. Aus dem leichten Twentieth Century ist ein eleganter, anspruchsvoller Cocktail geworden, dessen Kraft und Eleganz wunderbar in die Erste Klasse des Zuges der Twentieth Century Ltd. gepasst hätte, während neben ihm und dem Gast, in dessen Hand er liegt, das weite Land vorbeizieht. Ein Drink, so elegant wie die von Henry Dreyfuss erdachte NYC Streamlined Hudson Lokomotive.

Und so erstaunt es nicht, dass auch der Corpse Reviver #2 eine ganz neue Tiefe gewinnt.

Es mag die Hybris der kulinarischen Zeitreise sein, die man mit Cocchi Americano unternehmen kann, der Reiz des Wiederentdeckens, aber ich behaupte: Wer diese klassischen Cocktails nur mit Lillet Blanc getrunken hat, wird sie nicht verstehen können.

Weitergehende Links:

http://ohgo.sh/archive/cocchi-americano-kina-lillet-blanc/

http://savoystomp.com/2008/01/31/the-quest-for-kina-lillet/

http://vermouth101.com/quinquinas.html

Momentane Bezugsquellen:

http://www.bardealer.de

http://www.thewhiskyexchange.com

tikiwise

Beruflich wandelt er auf David A. Emburys Spuren. Dessen Sour-Verhältnis von 8:2:1 irritiert ihn jedoch immer noch. Seine Aufmerksamkeit gilt American Whiskey, Tequila, Mezcal und allerlei Nischenspirituosen, aber auch Rezepten jenseits der Standards.

6 Kommentare

  1. Habt Ihr auch mal Lillet Drinks versucht damit nachzubauen? Wie funktioniert der Eierbecher des Löwen?

  2. Den Coquetiez halte ich für schwierig, da die Basis doch völlig verändert wird und der Drink damit generell ein andere wird – habe ich aber noch nicht probiert. Aber der 20th Century ist wirklich auf einem anderen Level…

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