„Ich wankte, ich schwankte, alles kreiste, ich war wie benommen…“ Wer hier an die Auswirkungen von übermäßigen Alkoholkonsum denkt, liegt zwar nicht falsch, verkennt aber die Ursache: Hier haben wir es mit Anzeichen des Stendhal Syndroms zu tun. –
Tolle Sache, so ein Syndrom . Das Wort Syndrom kannte ich bisher vor allem aus dem Film „Das China Syndrom“, in dem es in einem Kernkraftwerk zu üblen Kontrollverlusten kommt. Das sogenannte Stendhal Syndrom dagegen bezeichnet ein ganz bezauberndes Phänomen, dessen Namensgebung auf den jungen Schriftsteller Marie-Henri Beyle (Pseudonym Stendhal) zurückgeht.
Dem Schriftsteller Stendhal wird der Kopf verdreht
„Der junge Schriftsteller und Ex-Soldat Marie-Henri Beyle arbeitete in der Militär- und Zivilverwaltung, als Napoleons Kaiserreich 1815 zusammenbrach. Er wurde auf halbe Bezüge gesetzt und bemühte sich um einen neuen Job, doch nicht mal als Aushilfsbibliothekar wollte ihn jemand haben. Also zog er nach Italien, wo ihm schon des Öfteren einige Damen den Kopf verdreht hatten – wenn schon arm, dann wenigstens glücklich, dachte er sich. Sogleich schrieb er das Reisebuch »Rome, Naples et Florence« und nannte sich erstmals Stendhal. In dem Buch, erschienen 1817, erzählt Stendhal von seinen Erlebnissen in der Florentiner Franziskanerkirche Santa Croce. Und diese Kirche hat es in sich. Die sterblichen Überreste von Michelangelo, Macchiavelli und Galileo lagern hier (später sollte noch Rossini hinzukommen); drumherum bestaunen Besucher Giottos meisterhafte Fresken. Stendhal war begeistert. Ja, mehr als das:
»Ich befand mich in einer Art Ekstase bei dem Gedanken, in Florenz und den Gräbern so vieler Großen so nahe zu sein. zu sein. Ich war in Bewunderung der erhabenen Schönheit versunken; ich sah sie aus nächster Nähe und berührte sie fast. Ich war auf dem Punkt der Begeisterung angelangt, wo sich die himmlischen Empfindungen, wie sie die Kunst bietet, mit leidenschaftlichen Gefühlen gatten. Als ich die Kirche verließ, klopfte mir das Herz; mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen….«
Halluzinierend und der Ohnmacht nahe, taumelte Stendhal an die frische Luft. Er brauchte einige Stunden, um sich wieder zu sammeln.“ schreibt Stephan Maiwald im Merian 1/2006
Die Psychologin Graziella Magherini hat Köpfchen
Es war die in Florenz praktizierende Psychiaterin Graziella Magherini, die dieses Phänomen dann eingehender erforschte. In einer Studie schilderte sie das Schicksal von 106 Personen, die wie Stendhal an Störungen des Denkens und der Wahrnehmung litten. Sie erkannte: Allzu intensiver Kunstgenuss kann zu Kontrollverlusten führen und zum „Verlust der Kohäsion des Selbst“. Dieses Ausflippen, diese Art von Zerrüttung, diese Erkrankung taufte Magherini auf den Begriff: Stendhal Syndrom oder auch „Florentinische Krankheit“. In einem zweiten Buch unterfütterte sie ihre Untersuchungen, sodass der Terminus „Stendhal Syndrom“ inzwischen ein stehender Begriff ist und eine weitgehend anerkannte Diagnose darstellt.
Eine Putzfrau im (Wisch und Weg) Wahn reagiert kopflos
Diesen Monat erschütterte nun folgende Nachricht die kunstbeflissene Öffentlichkeit: „In einem Museum in Dortmund hat eine Putzfrau Teile eines Kunstwerks weggeschrubbt. Es geht um einen Holzplattenturm mit einem weißlichen Kalkfleck. Diesen Fleck hat die Putzfrau entsorgt, weil sie ihn für Schmutz hielt. Das Werk mit dem Titel „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ hat einen Versicherungswert von 800.000 Euro“ – Ich frage mich (um uns noch einmal der Berufsgruppe der Putzfrauen zu nähern), ob nicht diese arme Putzfrau angesichts dieser kühnen Konstruktion überwältigt war und in ein Stendhal Syndrom verfiel und deshalb wie von Sinnen dieses unwiederholbare, erhabene Kunstwerk zerstörte? Diese im Grunde unentschuldbare, unfassbare Tat (die uns hier im Blog noch weiter beschäftigen wird) hätte nun – Stendhal sei Dank – eine wissenschaftliche Erklärung gefunden. Zu betörend war der kunstästhetische Eindruck, zu verstörend dieses Übermaß an Schönheit, zu überwältigend der Zauber der Kunst und die kulturelle Reizüberflutung. So, nur so, ist die Zerstörung dieses einmaligen Kulturgutes zu begreifen und zu entschuldigen.
Doch ich möchte noch weiter gehen…
Halten wir noch einmal einige Symptome des Stendhal Syndroms fest: Desorientierung, Bewusstseinsstörungen, Hochgefühle, Ekstase, SchwindeL… Ähnelt das nicht stark an die Auswirkungen des Alkoholkonsums? Und sind nicht vielleicht einige dieser Auswirkungen nicht dem Nervengift Ethanol zuzuschreiben, sondern direkte Symptome einer kulinarischen Variante des Stendhal Syndroms?
Über eine solche wollen wir in ein paar Tagen unter der Überschrift „Macht Kulinarik glücklich? oder Das kulinarische Stendhal Syndrom“ weiter spekulieren…
Einer der besten Beiträge seit Langem. Eine wichtige Sicht. Danke Alchemyst!
Schöner Post!!!
Ich habe mich selbst vor langer Zeit mit diesem Thema (Syndrom) auseinandergesetzt. Erstaunlich (meiner Vermutung nach), wie Alkohol dieses verstärkt oder sollte man besser sagen – hervorbringt…
So erklärt sich manches Verhalten bestimmter Gäste.
Alkohol hat schon immer eine besondere Wirkung gezeigt, nicht nur dem Trunkenbild.
B@rGeist