Der Mehrwert des Mischens: Tiki! oder Was ist ein Barstil?

Wir lieben die „American Bar“, wir sind fasziniert von der Philosophie und Technik des “Japanese Bartending“, erfreuen uns am frischen „Cuisine Style“, wir reiben uns an der immer noch vorherrschenden Erdbeer/Maracuja Verliebtheit bei Mix-Wettbewerben, und entdecken fruchtige Rumdrinks im Tiki-Style…
Die Aufzählung ließe sich beliebig fortschreiben, aber es ergibt sich die Frage:
Sind das alles verschiedene Mixstile?
Je eigene Cocktailschulen?
Unterschiedliche Ausprägungen zeitgenössischer Barstile?
Ich meine: Ja.


Aber woran erkennt man einen Barstil, einen Mixstil?
Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um solch einem Etikett zu genügen?
Ist Tiki überhaupt ein bestimmbarer Barstil?
Ich frage das in allem Ernst, denn Tiki als Idee, als Leitbild ist ein Kunstprodukt, erfunden von cleveren Restaurantbesitzern, um den Betrieb besser vermarkten zu können. Sowenig wie „Käptn Iglo“ je zur See gefahren ist, sowenig wie „Ronald Macdonald“ in bunten Plastikhäusern wohnt, und Red Bull Flügel verleiht, sowenig hatte gastronomischer Tiki Style einen realen Bezug zur Welt außerhalb der USA.
Kann man solch einem Marketingprodukt zubilligen, einen eigenen Mixstil hervorgebracht zu haben?
Hat Tiki eine kulinarische Relevanz?
Hat die Vielgestaltigkeit, die Tiki ausweist, einen gemeinsamen Nenner?

„Man braucht kein Meisterwerk, um die Idee zu verstehen. Die Grundidee oder das Wesentliche eines Stils wird auch bei einem zweitklassigen Exemplar und sogar bei Fälschungen völlig plausibel.“ – Pablo Picasso

Und im „The Book Of Tiki“ lesen wir in Bezug auf die künstliche Tiki-Kultur:

„Dass die samoanischen Feuertänzer oder die tahitischen Hula-Mädchen häufig aus Südamerika oder Asien stammten war nicht wichtig. Die Kostüme und die Musik, die tropische Ausstattung und die starken Drinks – das alles ergab ein wirksames Gemisch, um alle kleinlichen Bedenken, ob dies nun authentisch war oder nicht, in Luft aufzulösen… “

So wollen auch wir die „kleinlichen Bedenken“ beiseite wischen und erklären hiermit, dass sich unter dem Label „Tiki“ ein Barstil etabliert hat, an dem man wunderbar, geradezu exemplarisch darstellen kann, was einen Barstil oder besser Mischstil ausmachen könnte:


Eine Philosophie, eine Grundidee, ein bestimmter Geist

In den ersten drei Teilen unserer kleinen Tiki-Serie haben wir versucht, uns diesem Geist zu nähern: Tiki hat etwas Spielerisches und als Vorbild das freie, unbeschwerte Inselleben getreu dem Motto Escape! Relax! Enjoy! Tiki Drinks folgen dem Grundgedanken des Schmelztiegels: Für den Mehrwert des Mischens, die spielerische und in seinen (seltenen) guten Momenten ausgetüftelte Aromenkombination, liefern Tiki Drinks ein schönes Beispiel.

Die Zutaten, die Aromen-Kombination

Ein Mischstil , der für eine gewisse Eigenständigkeit steht, kann dies durch eine gewisse Selektion erreichen. Tiki Drinks sind leicht zu erkennen an ihrem Kanon typischer Produkte.
an erster Stelle: RUM! Nicht immer, aber immer mehr: diverse karibische Rumsorten aller Couleur.

„The vast majority of these Drinks are rum-based. And not just rum, but very specific types of rum – often two or more in the same drink, combined to produce a unique, layered, complex flavor that no one rum can approach on its own.“ – Beachbum Berry in Intoxica!

Der Mehrwert des Mischens par excellence.
Sympathischerweise schreibt Berry: „Spiced“ and flavored“ rums have no place in a connoisseurs liquor locker – without one exception. Coconut Rum…. we like Cruzan best…
Nun, das wussten wir schon immer. Man sieht: kulinarisch war und ist Tiki im Trinkbereich nie polynesisch, pazifisch, sondern vielmehr fast komplett karibisch!
__________________________________________________

Dazu kommen diverse Liköre wie Curacao, Cointreau, Licor 43, diverse Creme de …, diverse Frucht Brandys: Apricot-, Cherry-, Coffee-, Peach Brandy, Grand Marnier, Pernod, Galliano , Sloe Gin, Maraschino, aber auch Campari, Vermouth und „Exoten“ wie Bärenjäger, Macadamia Likör oder Aquavit. Nicht zu vergessen: FALERNUM!
__________________________________________________

Sirupe und andere Süßungsmittel
Zu nennen wären Rock Candy Sirup, Grenadine, Orgeat, Maracujasirup, aber auch Honig und Ahornsirup , Rose’s Lime Juice und der leidige „Sweet and Sour Mix“
Und zum Schluss die so wichtigen Säfte: Orangen, Grapefrut-, Limetten-, Zitronensaft und als Nektar Papaya, Guave- und Maracuja, sowie diverse Bitters.
Ein ganz eigenes Zutaten-Universum ist Kennzeichen des Tiki-Stils.
__________________________________________________

In „Cocktailian – Das Handbuch zur Bar“ schreibt Jeff Berry über Don the Beachcomber:

„Dann fragte er sich: Warum nur Limetten? Warum nicht eine Kombination aus Limetten, Grapefruit und Ananas? Und warum nicht unerwartete Süßungsmittel verwenden wie Honig oder Maracuja mit Falernum? Mit dem Rum spielte Donn auf die gleiche Weise. Er mischte ihn mit ganz unterschiedlichen Körpern und Charakteren und kreierte so eine komplexe, vielschichtige Spirituose, die über ihre solitären Eigenschaften hinauswuchs“

Exakt das nennen wir den Mehrwert des Mischens.

Die Portionsgröße

ist ein weiterer Faktor der Variation. Tiki bietet – in der Regel – keine Cocktails im engen Sinne des Wortes. Ein typischer Tiki Drink ist kein Shortdrink, sondern bietet eine ordentliche Ladung. „Ein klein wenig zu Essen und zu Trinken“ ist definitiv nicht „Tiki-Style“. Will man Tiki Drinks auf eine Eigenschaft reduzieren, würde ich u. a. sagen: üppig. Die Größe der Drinks, die Aromenvielfalt, die Deko… Alles ist üppig.
Was auch immer, es gilt: Klotzen! – nicht kleckern. Und damit kommen wir zu einem verwandten Kriterium. Ich meine:

Die Anrichteform

Vielleicht das auffälligste Merkmal: Trinkgefäße aller Größen und Formen, aus Glas, aus Holz, aus Keramik in den absurdesten Formen: Hurricane Gläser, Tiki Mugs, Skull Mugs, Punch Bowls, ausgehöhlte Ananas oder Kokosnüsse… Wer kennt die Formen, nennt die Namen.
Dazu eine sehr großzügige Deko. Fertig ist der Tiki Drink. Und wenn man dann noch gemeinsam mit langen Trinkhalmen aus einer großen Tiki Bowl trinkt, ist der gastronomische Mehrwert, die Geselligkeit endgültig erreicht.

Ein Fazit
In Teil 1 bis 4 unserer Tikireihe haben wir Tiki auf recht eigene Art gewürdigt.
Hinter dem Wort Tiki verbirgt sich ein Mixstil, eine Mixschule, die ausgeprägter kaum sein könnte. In seinen besten Momenten schafft es der Tiki-Stil, wahre Rum-Rhapsodien voller Komplexität zu kreieren, mit Fruchtaromen exotisches Flair zu zaubern, ein großes, buntes Aromenfeuerwerk abzubrennen und durch Feinsttunnig eine Drinkidee zu neuen Höhen zu liften. – Von Jürgen Dollase lernend möchte ich aber an das Hauptkriterium erinnern, durch deren Anwendung sich bei Mischstilen die Spreu vom Weizen trennt:

Ein Drink mit Charakter, der durch und durch als Gestaltwerden eines kulinarischen Geistes wirkt.

Dazu mehr in einem letzten Beitrag vor unserer Sommerpause in meiner ganz persönlichen Stellungnahme: Tiki – Ein Polemik

Alchemyst

Alchemyst, geboren in den fünfziger Jahren, studierte Philosophie, Theologie und Pharmazie. Heute leitet er eine öffentliche Apotheke in Norddeutschland. Alchemyst ist nicht selten in Champagnerlaune.

Sundowner mit Rum, Ananas und Kokos

2 Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.