Cocktail-Archäologie – Amer Picon – Teil 1

In alten Cocktailbüchern stößt man immer wieder auf die Spirituose bzw. den Bitterlikör Amer Picon. Ich wollte mich diesem Getränk widmen und stieß erstaunlicherweise auf relativ wenig Informationen. Insbesondere wunderte ich mich, dass das heutige Produkt relativ wenig mit dem Ursprungsprodukt gemein zu haben scheint, aber sich dennoch niemand um das wahre Produkt zu kümmern scheint. Merkwürdig, schließlich wird doch sonst sehr penibel nach dem wahren Geschmack gesucht.

Das Bekannte

Dank einem sehr aufschlussreichen Artikel aus der Mixology wissen wir: Amer Picon wurde im Jahre 1837 von Gaétan Picon erfunden, als dieser nach Algerien ging um dort in der französischen Armee zu dienen. Das Getränk aus mazerierten Orangenschalen, der Rinde des Chinabaumes und Enzian hatte fiebersenkende Wirkung und war zudem sehr angenehm zu trinken – Parallelen zum Tonic Water der Engländer sind unverkennbar. Er betrieb daher in Algerien bereits drei Destillerien, womit er auch die Zivilbevölkerung in Frankreich versorgte. Durch die Mobilmachung im Vorfeld des deutsch-französischen Krieges kehrte auch Gaétan Picon nach Frankreich zurück und gründete eine weitere Destillerie in Marseille. Die Rezeptur des „Original“ Picon Amer wurde jedoch im Jahre 1989 soweit verändert, dass der Alkoholgehalt nur noch 21% beträgt, im Original waren es 39%. Das Produkt wird heute in einem Joint Venture von LVMH und Diageo hergestellt und fristet leider ein Nischendasein.

Das Unbekannte

Wie kann man heute möglichst nahe an den Original Amer Picon kommen? Wie schmeckte ein Brooklyn, ein Liberal Cocktail oder ein Picon Punch wirklich? Und was ist mit modernen Cocktails wie dem Jaguar?

Das Original – Amer Picon (38%)

Durch großes Glück gelang es mir eine Flasche Amer Picon zu erstehen. Leider ist der Korken nicht in perfektem Zustand, sodass einige Oxidationstöne vorhanden sein werden. Bei 38% Alkohol allerdings dürfte die gesamte Geschmacksveränderung aber (hoffentlich) zu vernachlässigen sein. Von wann die Flasche ist, ist schwer zu sagen. Nach meinen Recherchen wird sie ca. von 1920 sein. Wer etwas genaueres zum Alter beisteuern kann, wird gerne gehört.
Der Geschmack ist ziemlich oxidativ, fast sherryartig. Aber dahinter eine unglaubliche Fruchtigkeit, die bewahrt blieb. Daneben eine dezente Süße, leichte Orangenölnoten, und deutliche, aber keine störende Bitterkeit. Toll.

Geschmack ist relativ. Daher soll der historische Amer Picon als Maßgabe dienen und zwar indem er zur Justierung des geschmacklichen Koordinatensystems fungiert. Die zu vergleichenden Merkmale sind anhand der oben beim Amer Picon wichtigen Aspekte: Süße und Bitterkeit, sowie Fruchtigkeit und Öl der Orange und die kräutrigen Töne des Likörs, die insbesondere vom Enzian herrühren. Der Übersichtlichkeit halber sind die Werte für den Amer Picon auf „5“gesetzt.

Spur 1 – Torani Amer


Torani Amer wird von Torani aus Kalifornien hergestellt, ein 1925 gegründetes Unternehmen, das sonst verschiedene Siruparten für Kaffee herstellt. Torani Amer wird ebenfalls aus Orangenschalen, Chinarinde und Enzian hergestellt und gilt als Ersatzprodukt für Amer Picon. Außerdem besitzt es 39%, weswegen es in den USA als Ersatz für den untergegangenen Picon Amer gehandelt wird. Glücklicherweise ist Torani Amer seit kurzem auch in Europa über TWE zu beziehen. Ein Import nach Deutschland ist auf Nachfrage nicht geplant. Es gibt hier zwei Versionen. Nach 2008 wurden die als unangenehm empfundenen Kräuternoten (manche sprachen von Sellerie) entfernt. Die Veränderung ist leider nicht auf dem Etikett sichtbar, sodass unklar bleibt, welche Charge ich erwischt habe.
Geschmacksnotizen

Der Geschmack ist leider – katastrophal. Sehr alkoholisch, scharf, sprittig. Starke Orangenöltöne kommen durch. Ansonsten wenig süß, wenig bitter. Ich hoffe (für den Hersteller), ich habe die alte Version erwischt.

Spur 2 – Amer Picon (21%)

Der Amer Picon wie wir ihn heute bekommen in der alkoholreduzierten Version. Häufig ist es ja so, dass mit dem Verlust von Alkohol und der Neurezeptur auch der Geschmack leidet. Kina Lillet und Lillet Blanc sind da so Kandidaten. Die Flasche kostet ca. 20€/l und ist in Europa der Standard, wenn es um historische Cocktails mit Amer Picon geht.

Die Verwandtschaft zum Amer Picon ist deutlich. Wesentlich weniger Süße, aber das Geschmacksprofil, insbesondere der Kräuter und der Orangentöne ist dem alten Amer verblüffend ähnlich. Insbesondere die Frische der Orangenfrucht unterscheidet die Picon Amer von den anderen Kandidaten.

Spur 3 – Amaro CioCiaro

Amaro CioCiaro ist ein relativ unbekannter Amaro, der in Deutschland nur schwer erhältlich ist. Auf das Tableau habe ich ihn gesetzt, weil Cocktailhistoriker (welch Berufsbezeichnung!) David Wondrich ihn als ein geschmacklich sehr identisches Substitut für Amer Picon hält und dazu rät, ihn zu vermixen.

Das kann ich leider nicht bestätigen. Der Amaro ist extrem süß und die Orangenfrucht deutlich präsent, allerdings ziemlich künstlich. Die Kräuternote hingegen bleibt unterrepräsentiert. Für mich kein geschmackliches Substitut.

Spur 4 – Amer Boudreau

Jamie Boudreau hat ein weit beachtetes Rezept aus mazerierten Orangenschalen, Stirring’s Orange Bitters und Ramazzotti entwickelt, welches nach Aussagen anderer Bartender dem Picon Amer recht nahe kommen soll. Dank einer glücklichen Fügung gelang es mir auch, eine Flasche des Bitters zu erhalten und ich machte mich an die Herstellung.

Der Amaro ist deutlich auf der bitteren Seite. Auch sind die Orangenöl-Noten sehr dominant. Weniger deutlich hingegen die Orangenfrucht, die trotz der Stirring’s Orange Bitters (die sehr fruchtig sind) nicht deutlich durchkommt.

Im Vergleich ergibt sich folgendes Bild:

Deutlich zeigt sich für mich ein überraschender Sieger im Ähnlichkeitstest: Amer Picon (21%). Die Alkoholreduzierung hat den Geschmack kaum verändert. Alle anderen Kandidaten haben Ausrutscher in die eine oder andere Ecke. Amer Boudreau kommt am ehesten noch an das Produkt. Wieso aber wird dann in den USA soviel Bohei um das Ersatzprodukt gemacht? Vielleicht war doch zu viel Verdunstung von Alkohol im antiken Picon Amer der Grund für die Ähnlichkeit zum neuen Produkt? Eine spirituöse Form der „Altersmilde“ etwa? Ich kann es wohl nicht endgültig erklären, weiß aber, dass europäisches Amer Picon kaum zu bekommen ist. Vielleicht daher der Wunsch nach dem Substitut.

Allerdings muss der identische Geschmack im puren Zustand nicht unbedingt besser sein. Eventuell spielt der Alkoholgehalt beim Vermixen eine stärkere Rolle. Viele andere Zutaten haben sich im Laufe der Zeit ja auch gewandelt. Im zweiten Teil wird es dann um den Geschmack in Cocktails gehen und welche Zutat in modernen und antiken Cocktails das beste Bild abgibt. Höchst subjektiv aber auch höchst schmackhaft.

tikiwise

Beruflich wandelt er auf David A. Emburys Spuren. Dessen Sour-Verhältnis von 8:2:1 irritiert ihn jedoch immer noch. Seine Aufmerksamkeit gilt American Whiskey, Tequila, Mezcal und allerlei Nischenspirituosen, aber auch Rezepten jenseits der Standards.

Burmester LBV 1964

1 Kommentar

  1. Steffen Hubert

    Wie immer eine Freude bei Euch zu lesen. Toll aufgearbeitet & aufgeschlüsselt. Cheers!

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