„Das Rezept des Chartreuse Verte ist seit dessen Einführung im Jahr 1764 unverändert.“
So lautet ein gängiger Mythos in der Barwelt. Ob dies wirklich stimmt, wagten wir im Rahmen einer kleinen Verkostungsrunde um Klaus St. Rainer im Mai dieses Jahres erstmals zu bezweifeln. Damals hatten wir die wohl einmalige Gelegenheit eine höchst seltene Chartreuse Verte-Abfüllung aus dem Zeitraum zwischen 1878 – 1903 zu verkosten. An Nase und Gaumen ließ sich die Grundcharakteristik des heutigen Chartreuse Verte eindeutig erkennen, wurde jedoch durch eine Currynote (vermutlich Bockshornkleesamen) und eine deutliche Absinthe-Stilistik ergänzt. Die Ausprägung dieser geschmacklichen Unterschiede war nicht gravierend, ließ sich jedoch nicht von der Hand weisen. War der Mythos um die unveränderte Rezeptur also in Wirklichkeit nur ein Ammenmärchen? Ausschließen wollten wir dies ab diesem Zeitpunkt nicht mehr…
Einige Monate später absolvierte ich im Rahmen meines Studiums der Lebensmitteltechnologie das Praktikum „Getränkeanalytik“ am Lehrstuhl für Allgemeine Lebensmitteltechnologie am Wissenschaftszentrum Weihenstephan. Im Laufe des Praktikums beschäftigten wir uns unter anderem mit der Methodik der Gaschromatographie, die es ermöglicht flüchtige Verbindungen in (Getränke)Proben aufzutrennen und qualitativ und quantitativ zu bestimmen. Schnell wurde dabei der Gedanke geboren, die historische Chartreuse-Flasche und eine aktuellen Abfüllung gaschromatographisch zu untersuchen, um etwaige Unterschiede auch analytisch deutlich zu machen. In einem Gespräch mit den Praktikumsbetreuer Dr. Thomas Frank, erklärte sich dieser erfreulicherweise bereit die Chartreuse-Analytik zu betreuen und auch Klaus St. Rainer war gewillt 50 ml der kostbaren Flüssigkeit zur Verfügung zu stellen.
Gesagt, getan und so trafen wir uns am 06. November 2013 um dem Mythos Chartreuse genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie bereits erwähnt, lassen sich mit Hilfe der Gaschromatographie nur flüchtige Verbindungen (Alles was leicht verdampft – Alkohole, Ester, Säuren etc.) analysieren, weshalb diese vorher von den nicht-flüchtigen Verbindungen (z.B. Zucker) abgetrennt werden mussten. Dies realisierten wir mittels Wasserdampfdestillation. Bei der Wasserdampfdestillation wird Wasserdampf in die Probenflüssigkeit eingeleitet und dadurch wasserdampflösliche Stoffe und flüchtigen Säuren in einen Messkolben überführt. Die Vorteile dieser Methode sind, dass sie wenig zeitintensiv und sehr produktschonend ist. Es gilt jedoch auch festzuhalten, dass die Wasserdampfdestillation eine geringere Überführungsgenauigkeit besitzt als beispielsweise eine Flüssig-Flüssig-Extraktion oder eine Vakuum-Headspace-Extraktion. Diese Methoden konnten wir aufgrund des Zeitaufwandes für unsere Analytik jedoch nicht in Betracht ziehen.
Die beiden gewonnenen Destillate (alter Chartreuse, aktueller Chartreuse) wurden am folgenden Tag von Dr. Frank und seinen Kollegen mittels Gaschromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung (GC-MS) untersucht. Wie dies funktioniert möchte ich zum Verständnis der später folgenden Chromatogramme kurz erklären, ohne dabei jedoch auf Details einzugehen.
Jede Chromatographie ist ein Trennverfahren welches darauf basiert, dass die zu trennenden Substanzen auf einer stationären (= fixierten) und einer mobilen (= beweglichen) Phase multiplikativ, d.h. wiederholt verteilt werden. Die mobile Phase durchströmt die stationäre Phase und die in ihr enthaltenen Stoffe werden durch Wechselwirkungen mit der stationären Phase aufgeteilt und können anschließend sichtbar gemacht werden. Der ein oder andere kennt diese Methodik evtl. noch aus dem Chemieunterricht in der Schule, wo oft die einzelnen Farben eines schwarzen Filzstiftes mittels Filter- oder Löschpapier aufgetrennt werden. Im Grunde genommen funktioniert die GC auf gleiche Weise. Die zu untersuchende Probe (in unserem Fall das Chartreuse-Destillat) wird mit einem Lösungsmittel vermischt und mittels einer Injektionsspritze in den Injektor (Einlassteil) der GC eingebracht und dort verdampft. Dieser Dampf gelangt in einen Gasstrom aus Trägergas (z.B. Stickstoff oder Helium = mobile Phase) und strömt durch eine Kapillar-Trennsäule. Diese Kapillar-Trennsäule hat einen Durchmesser von ca. 3–6 mm, ist zwischen 10-200 m lang und enthält die stationäre Phase (oft zähflüssige Silikone). Je nach der Stärke der Wechselwirkungen der einzelnen Stoffe mit der stationären Phase, erreichen diese das Ende der Trennsäule früher oder später. Der Zeitpunkt des Austritts der einzelnen Stoffe aus der Säule, die sogenannte Retentionszeit, wird festgehalten und die einzelnen Molekülen können durch die angeschlossene Massenspektrometrie identifiziert werden.
Die Chromatogramme waren nun fertig. Um diese jedoch sinnvoll interpretieren zu können, sollte man sich bereits vor deren Betrachtung klar machen, welche Ergebnisse man erwartet. Dazu lohnt es sich einen Blick auf die Geschichte der Kartäusermönche der Großen Kartause, die den Chartreuse Verte bekanntlicherweise produzieren, zu werfen. Uns soll die Zeit um 1903 interessieren. In der Zeit in der die analysierte Flasche hergestellt wurde (1878 -1903), produzierten die Mönchen den Likör in der 1860 errichteten Fourvoirie Destillerie in der Nähe des Mutterkloster des Kartäuserordens. Das Anwesen der Mönche wurde 1903 verstaatlicht und die Mönche wurden gezwungen das Land zu verlassen. Sie produzierten fortan in Tarragona, Spanien und durfte erst wieder 1929 in ihr Kloster und die angrenzende Fourvoirie Destillerie zurückkehren. Diese wurde schließlich 1935 durch einen Erdrutsch zerstört und es wurde eine neue Brennerei in Voiron in der Nähe von Grenoble errichtet, wo der Likör auch heutzutage noch produziert wird. Nun warum erzähle ich dies? Man sollte sich vor Augen führen, dass in Spanien eine andere Flora zu finden ist als in Frankreich. Dies könnte zu Veränderungen im Rezept führen, die später nicht mehr korrigiert wurden. Des Weiteren ist zu beachten, dass auch neue Brennblasen einen Anteil am Geschmack des Produktes haben können. Man denke hier nur an die Whisky- oder Cognacproduzenten die teils auf jahrzehntealte Brennblasen und die Bedeutung jeder einzelnen Delle hinweisen. Dies sind natürlich nur Vermutungen, ich möchte jedoch das Bewusstsein dafür schaffen, dass es eher verwunderlich wäre, wenn der Likör sich über die Jahre geschmacklich nicht verändert hätte, als wenn er gleich geblieben wäre. Auch die Oxidation des Inhaltes ist nach ca. 115 Jahren Flaschenreife natürlich ein wesentlicher Faktor.
Nun jedoch zur Analyse der Chromatogramme. Die Fläche unter den einzelnen Peaks zeigt die Konzentration des jeweiligen Inhaltsstoffs in der Probe halbquantitativ an, während die Zahlen die Retentionszeit in Minuten wiedergeben:
Betrachtet man die Chromatogramme, so ist das Ergebnis zuerst ziemlich ernüchternd. Auf dem GC-Lauf des aktuellen Chartreuse war bis auf Ethanol nichts zu entdecken und auch die Anzahl der Peaks auf dem GC-Lauf der historischen Abfüllung entsprach nicht unbedingt unseren Erwartungen. Bei näherer Betrachtung der einzelnen, auswertbaren Inhaltsstoffe ergeben sich allerdings interessante Fakten. Die nun beschriebenen Stoffe beschreiben die Peaks auf dem Chromatogramm „Alter Chartreuse“ von links nach rechts.
Ethylether: Lösemittel; wird für die GC-Analytik gebraucht; kein Bestandteil der Probe, daher für uns uninteressant
Aceton: Lösemittel; wird für die GC-Analytik gebraucht; kein Bestandteil der Probe, daher für uns uninteressant
Ethylacetat: auch als Essigsäureethylester bekannt; entsteht durch wilde Hefen oder Essigsäurebakterien während der Gärung; bei geringen Konzentrationen als Geschmackskomponente erwünscht, bei zu hohen Gehalten jedoch unerwünscht; „fruchtiger“ Geruch
–> Der Peak des Ethylacetats lässt sich in geringerer Konzentration auch beim aktuellen Chartreuse finden (4.25); ich vermute, dass die Konzentration geringer ist, weil heutzutage Reinzuchthefen verwendet werden, die weniger Ethylacetat produzieren. Ethylacetat kann sich jedoch auch unter natürlichen Bedingungen aus Essigsäure und Ethanol bilden, die ebenfalls beide in der Probe nachweisbar waren.
Methanol: Entsteht enzymatisch aus Pektin; farb- und geruchslose Flüssigkeit, die in zu hohen Konzentrationen toxisch wirkt; typischer Bestandteil des Vorlaufes bei der Destillation
–> Auch der Methanol-Peak lässt sich in geringerer Konzentration im aktuellen Destillat finden. Dies ist normal, lässt sich kaum vermeiden und ist kein Qualitätsmangel. Der höhere Methanolanteil ist vermutlich auf einen größeren Vorlaufanteil im alten Chartreuse zurückzuführen.
Ethanol: Hauptprodukt der alkoholischen Gärung, Trägersubstanz von Aromastoffen und natürlich erwünscht als Inhaltsstoff
Propanol: Propanol zählt zu den höheren Alkoholen, die auch als Fuselalkohole oder Fuselöle bekannt sind; typischer Bestandteil des Nachlaufes bei der Destillation; sollte mit dem Nachlauf abgetrennt werden.
Isobutylalkohol: auch als 2-Methyl-1-propanol bekannt; ebenfalls Bestandteil der höheren Alkohole und Teil des Nachlaufes
Limonen: Liegt in diesem Fall als (D)-(+)-Limonen vor; ist in dem Öl von vielen Zitrusfrüchten, aber auch in Dill- oder Korianderöl vorhanden
Isoamlyalkohol: auch als 3-Methyl-1-butanol bekannt; ebenfalls Bestandteil der höheren Alkohole und Teil des Nachlaufes
–> Die höheren Alkohole im Nachlauf besitzen in moderaten Konzentrationen einen fruchtigen Geschmack und beeinflussen diesen bei höheren Konzentrationen in Richtung malzig, dumpf und kratzig. Dies ist z.B. in der Whisky-, Weinbrand und Obstbrandindustrie teilweise ausdrücklich gewünscht, weshalb manche Brenner gezielt viel Nachlauf in ihr Produkt fließen lassen. Gerade bei Williamsbränden wird der Nachlauf von manchen Konsumenten als „typischer“ Geschmacksbestandteil des Brandes gedeutet.
Essigsäure: entsteht durch wilde Hefen oder Essigsäurebakterien während der Gärung; kommt auch als Bestandteil in Pflanzensäften und ätherischen Ölen vor; nicht ungewöhnlich; im aktuellen Chartreuse ebenfalls enthalten (25.95)
Menthadienon: leitet sich vermutlich von Limonen (= p-Mentha-1,8-dien) ab; Limonen neigt zur Autoxidation, woraus sich Menthadienon bilden kann; auch Bestandteil von Krause Minze Öl;
–> Hier ist es schwer zu sagen, ob der Anteil an Limonen früher höher war und sich im Laufe der Jahre umgewandelt hat, oder ob das gefundene Menthadienon aus der Krause Minze stammt. Da die Krause Minze ursprünglich in mitteleuropäischen Staaten verbreitet ist, vermute ich eine Kombination von beiden.
p-Propenylanisol: auch als Anethol bekannt; kommt vorwiegend in Anis und Sternanis vor; auch Doldengewächse wie Fenchel enthalten Anethol
–> Der Anethol-Anteil der alten Probe ist deutlich höher als bei der aktuellen Abfüllung (38.13). Dies war die wohl entscheidendste Entdeckung der Untersuchung, untermauerte sie doch unsere These, dass der Chartreuse aus dem 19. Jahrhundert geschmacklich viel stärker einem Absinthe glich als heutzutage. Absinthe enthält neben Wermut traditionell auch Anis und Fenchel, weshalb ein hoher Anethol-Anteil charakteristisch für Absinthe ist.
Was bleibt also festzuhalten? Natürlich hätten wir uns bei der Analyse noch genauere Ergebnisse und eine möglichst perfekte Aufschlüsselung der Inhaltsstoffe gewünscht. Dies ließe sich mit zeit- und kostenintensiverer Analytik auch bewerkstelligen, für die von uns eher im Praktikumsmaßstab durchgeführte Analyse sollte man jedoch zufrieden sein. Es ließ sich definitiv feststellen, dass der Grundalkohol für Chartreuse früher unsauberer produziert wurde und, was am wichtigsten ist, dass es Unterschiede in der Quantität des Anethols gibt.
Zum Mythos bleibt daher zu sagen, dass ich nicht davon ausgehe, dass für den Chartreuse heutzutage andere Ingredienzien verwendet werden als früher, es jedoch als erwiesen anzusehen ist, dass sich deren jeweiliger Anteil in der Kräutermischung verändert hat.
Abschließend sei noch erwähnt, dass sich auch in der Popkultur – die dem Chartreuse z.B. durch Lieder von ZZ Top oder Erwähnung in Filmen von Quentin Tarantino große Marketing-Dienste geleistet hat – Hinweise auf eine geschmackliche Änderung des Chartreuse finden. So trinken Anthony Blanche und der Erzähler Charles Ryder in Evelyn Waugh’s 1944 erschienenen Roman „Wiedersehen mit Brideshead“ nach dem Dinner Chartreuse. Anthony sinniert daraufhin: „Real G-g-green Chartreuse, made before the expulsion of the monks. There are five distinct tastes as it trickles over the tongue. It is like swallowing a sp-spectrum.“ Dabei wird Anthony wohl nicht unser Massenspektrum im Kopf gehabt haben, und das ist auch gut so. Denn sind wir ehrlich: Selbst wenn sich der Geschmack leicht verändert hat, so bleibt Chartreuse einer der spannendsten und vielseitigsten Liköre auf dieser Erde!
Hallo,
interessanter Beitrag. Habt ihr eigentlich auch einen internen Standard für die Quantifizierung der Konzentrationen eingesetzt? Das GC der aktuellen Abfüllung sieht wirklich nicht so gut aus. Irgendwas ist das falsch gelaufen. Habt ihr das mit der selben Probe nochmal gemessen?
Grüße
Marc
Hallo Marc,
bei der Untersuchung wurde kein interner Standard verwendet, da dieser sehr genau auf die zu untersuchende Probe und die analytische Methode abgestimmt sein muss und dies den Zeitaufwand für unsere Analyse gesprengt hätte. Uns genügte die halb-quantitative Auswertung, da wir nur schauen wollten ob es Unterschiede in der Zusammensetzung gibt.
Die Probe des aktuellen Chartreuse wurde nicht erneut gemessen. Dadurch, dass der Chartreuse mit seinen 130 Inhaltsstoffen sehr komplex ist, liegen die einzelnen Verbindungen vermutlich nur in sehr geringen Konzentrationen vor. Wie man in dem Chromatogramm sieht, liegen ja auch viele Mini-Peaks vor, die allerdings leider nicht auswertbar waren. Der „Fehler“ liegt daher wohl eher bei der Überführungsgenauigkeit der Wasserdampfdestillation.
Liebe Grüße
Robin