Zeitenwende. Warum der Seelbach-Betrug das Ende der „Cocktailarchäologie“ bedeutet

Vor einigen Tagen bekannte sich Adam Seger, ehemaliger Restaurantmanager im Seelbach Hotel, zweier Verbrechen schuldig, die keine sind: Der Cocktail-Geschichtsfälschung und des Cocktail-Beschreibungsbetrugs. Anders als angegeben war der Seelbach nicht durch einen unbekannten Bartender zwischen 1912 und 1917, sondern erst 1995 durch ihn selbst erfunden worden. Er sei „ein Niemand gewesen“ und habe „Anerkennung durch die Barwelt“ erfahren wollen.
Bei einer Lüge ertappt zu werden, besonders aus Gründen der Selbstdarstellung und -überhöhung, ist nie schön. Und von den über die letzten Jahre historisch korrekt gebildeten Bartendern hätte man zumindest Klassenkeile, wenn nicht gar einen veritablen Shitstorm erwarten können – doch der blieb aus. Vielmehr gab es viel Unterstützung oder „gesunde Ruhe und Gleichmut“, wie es die Mixology nannte. Hatte nicht schon einmal jeder Bartender dem Gast eine Geschichte aufgetischt, um einen Drink zu verkaufen?

Gestatten: Der Blabla Cocktail

Wirklich? Was hier mit einem Schulterzucken abgetan wird, ist vielmehr ein offensichtlicher Bruch mit der in den letzten Jahren mühsam erarbeiteten modernen Barkultur. Vergleichbar nur mit der Abkehr von zuckersüßen Sahneschorlen und der Zuwendung zu historischen Mixturen Anfang der 2000er. Diese Zeit, in der sich die Qualität einer Bar an originalgetreuen Rezepten und Zutaten bewerten ließ, ist nun selbst Teil der Bargeschichte. Heute zählt die Story. Und damit auch die Person, die sie erzählt.

Wie konnte das passieren?

Jede Bewegung schafft sich ab, indem sie sich selbst perfektioniert und damit lächerlich macht. Wir begannen, neugierig an versteckten Türen zu klingeln und endeten damit, dass wirklich jeder, aber auch jeder Gin-Tonic-Rührer ein Jerry-Thomas-Outfit anhatte und mit Pipetten wedelte. Das ermüdet allerorten und provoziert Widerspruch.
Auch die Industrie hat einen beträchtlichen Anteil daran. Nicht mehr nackte Verkaufszahlen, sondern die Geschichte hinter dem Produkt wurde zum obersten Gebot. Vergessene Fässer, abgestürzte britische Fliegerpiloten, der „Gins, die wie mein Opa heißen“-Trend und natürlich der Klassiker: Omas Hausrezept. Man konnte es nicht mehr hören und der Glaube an wahre historische Substanz ging ohnehin verloren (mal abgesehen von Chartreuse). Und wer glaubt, dass dies nur die Big Player zu verantworten haben, der irrt. Junge, dynamische Unternehmen haben per se keine Historie. Und die Klugen unter ihnen haben irgendwann gemerkt, dass sie mit gezieltem Traditionsbruch mehr Flaschen verkaufen als mit irgendwelcher Pseudogeschichte.

Und dann wären da noch Facebook, Instagram & Co. Sie erzählen Geschichten, keine Geschichte. Geschichte ist lang, faktenbasiert und komplex. Social Media ist knapp, emotional und vereinfachend. Das Phänomen kennen sie aus der Politikberichterstattung? Auch in der Bar ist das postfaktische Zeitalter angebrochen. Der Seelbach ist nicht echt? Egal. Aber leider geil! 11Einself!!

Das alles ist nicht zwangsweise schlecht. Geschichten statt Geschichte ermöglicht charismatischen Personen, etwas aus sich zu machen. Vom Niemand zum Jemand. Und warum muss jeder Twist auf einem Classic beruhen? Warum Neoclassic und nicht einfach nur Neo? Das Entlarven des Alten als Lüge gehört dazu, wenn man sich von beengenden Traditionen befreien will. Zeitenwende in der Barbranche. Die Revolution trinkt ihre Kinder. Den Seelbach zum Beispiel.

tikiwise

Beruflich wandelt er auf David A. Emburys Spuren. Dessen Sour-Verhältnis von 8:2:1 irritiert ihn jedoch immer noch. Seine Aufmerksamkeit gilt American Whiskey, Tequila, Mezcal und allerlei Nischenspirituosen, aber auch Rezepten jenseits der Standards.

Teagroni

4 Kommentare

  1. Gunnar

    Und passend zum Thema „Das Narrativ im Produktmarketing“ dieser Titanic-Gag: http://www.titanic-magazin.de/newsticker/seite/2/ Ersetze „Kartoffelchips“ durch „Gin“, „Cocktailrezept“ (o.ä.), und wir haben genau die beschriebene Problematik. 😉

  2. Nils Wrage

    Da ich bzw. mein Beitrag auf Mixology Online in Daniels Text Erwähnung findet, möchte ich kurz – obwohl ich die Argumentation durchaus nachvollziehen kann – ein kleines Statement zur richtigen Einordnung abgeben.
    Keineswegs wollten Mixology oder ich persönlich den Eindruck erwecken, dass wir das Vorgehen Adam Segers Gutheißen würden. Dementsprechend habe ich sein Vorgehen auch klar als „Lüge“ bezeichnet. Ebenso schade ist es, dass er sich, abgesehen von seinem Statement gegenüber Simonson, das mit Sicherheit unter dessen Druck entstanden sein wird (mehr dazu in Mixology Issue 6/16 ab 1. Dezember), nicht dazu geäußert hat und auch auf Nachfrage nicht äußern wollte. Die Angelegenheit scheint sehr komplex.
    Vor allem aber möchte ich betonen, wie die Formulierung von „Ruhe und Gleichmut“ zu verstehen ist: Wer die Barszene und ihre öffentliche Kommunikation verfolgt, der stößt auf viel Unreflektiertes. Auch auf Wut und Verwünschungen. Die Causa Seelbach und ihre Aufnahme im öffentlichen Diskurs habe ich als besonders und als mit Signalwirkung versehen empfunden, weil diese Mechanismen teilweise – zum Glück – ausgeblieben sind. Daher auch die Verwendung des Wortes „souverän“. Denn die Szene ist zu souverän, um sich über solch kleingeistiges Verhalten zu echauffieren – der Humor ist da die weit elegantere Lösung.
    Der Umgang mit fingierten Geschichten oder fingierter Geschichte ist etwas, womit die Barszene immer wird klarkommen müssen, das ist angesichts einer erst vergleichsweise spät und auch dann nur in Teilen einsetzenden Verschriftlichung gar nicht anders möglich. Was wären angemessenere Reaktionen gewesen? Oben genannte Verwünschungen oder ein kollektives Mea Culpa darüber, dass man sich global hat ins Bockshorn jagen lassen? Ich bezweifle es.
    Ebenso denke ich gerade nicht, dass die Ernsthaftigkeit der Cocktailgeschichtsschreibung nun leiden wird. Ich erwarte das Gegenteil, auch das habe ich geschrieben. Dieser Vorfall ist eine Mahnung an alle Schreibenden, sich mehr der klassischen Arbeit mit Quellen zu widmen, anstatt immer nur sekundäre Statements weiter zu verarbeiten.
    Und noch ein Wort zu der These, dass jetzt Person, Story und Traditionsbruch mehr zählen als die Wirklichkeit bzw. die Wahrheit: Assozitionen und „Stories“ haben immer schon gezählt – gerade in den „Gründerjahren“ der Bar-Renaissance. Niemand wird bezweifeln wollen, dass das Wiederaufleben der klassischen Barkultur eben nicht ausschließlich durch das Wesen der alten Drinks befeuert worden ist, sondern durch die ganze normative Kraft, die vom Assoziationskomplex des alten „Goldenen Zeitalters“ ausgegangen ist: Der Bartender als ernsthafter, ehrenwerter Beruf, die Rückbesinnung auf das klassische Erscheinungsbild von Mensch und Raum. Das alles hat seinen optischen und habituellen Niederschlag gefunden. Oder hätte man zwangsläufig jede zweite neue Bar im Stile der Zeit zwischen 1890 und 1920 designen müssen, nur um endlich wieder Martinez Cocktails und Sazeracs zu servieren? Ich bezweifle auch das. Die Mythenbildung – ob sie nun auf realen Fakten oder dem Anteil an Verklärung und Nostalgie beruht – war uns ist immer noch integraler Bestandteil der heutigen Bar- und Cocktailkultur. Die „Story“ hat immer schon gezählt. Und es gab schon immer Stories, die nicht wahr waren. Wir werden auch – nach meinem Kenntnisstand die Quellenlage betreffend – viele Behauptungen der Klassiker wie Johnson oder Thomas niemals endgültig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können.
    Ich denke daher nicht, dass die Revolution ihre Kinder trinkt. Die Revolution tut den nächsten Schritt, indem sie – wie jede Revolution – zeigt, dass sie nicht makellos ist. Und der jetzt sichtbar gewordene Riss wird nicht der einzige oder letzte bleiben. Das macht Segers Vorgehen nicht besser, schon gar wird es dadurch legitimiert. Aber man sollte den Vorfall positivistisch sehen und nicht in ein Lamento darüber verfallen, dass nun das Cocktailabendland dem Untergang geweiht ist. Denn das ist es nicht. Denn – und auch das lehrt uns dieses Ereignis –: die Story mag einen Einfluss haben, aber der Drink setzt sich durch. Sonst hätte der Seelbach nicht rund um den Erdball so viele Freunde gefunden. Die Story zählt. Aber sie hat kein bisschen mehr Gewicht als früher.

  3. Hallo Nils,

    danke für deinen Kommentar. Sicherlich hast du insofern recht, dass man auch zu dem Schluss gelangen kann, die Barszene sei heute zu souverän, um nun auf einem solchen Einzelfall herumzuhacken. Gut so! Und es mag der Überspitzung und dem Gegenrevolutonspathos geschuldet sein: keineswegs glaube ich, dass alles in Vergessenheit gerät, was an Wissensstand und Barkultur entstanden ist. Auch Helmut Adam gibt ja auf FB verschiedene Beispiele für derzeitige Versuche, das erlangte Wissen fundiert zu archivieren.

    Mein Punkt in der Sache war – und ich danke euch für den Input, denn ich kann das nun noch besser klären: Das ist nicht selbstverständlich. Die Mythenbildung wird offen akzeptiert. Hey, es ist Unterhaltung und nicht bierernst. Als Lamento wollte ich es nicht verstanden wissen (und ich denke das kommt am Ende auch durch). Im Gegenteil. Ich bin – als ordinärer Gast mit Kommunikationsbedürfnis – gespannt auf die Entwicklung, die in den nächsten Jahren passieren wird. Welcher Habitus Einzug halten wird. VG

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