Noch ein Gin Artikel I – Bestandsaufnahme & Ausblick

Nicht ohne Stolz darf ich postulieren, dass die grassierende Gin and Tonic-Trinkerleidenschaft mich nie erreichte. Nichtsdestotrotz möchte ich zu meinem Einstand im Trinklaune-Team – an dieser Stelle direkt ein herzliches Dankeschön an die weiteren trinklaunigen Autoren für die Aufnahme in den ehrwürdigen Club – mich dem Wacholdertrunk in einer kleinen Reihe annehmen. Ich beginne mit einer klitzekleinen Bestandsaufnahme, die ich so oder so ähnlich leider zu selten in den aktuellen Diskussionen über Gin lese oder höre.

Hyped Hype

2016 wurden laut den Marktforschern von Nielsen in Deutschland ca. 9,3 Millionen 0,7 Liter Flaschen Gin verkauft. Nielsen-Zahlen sind (in den kleinsten Details nicht vollkommen unumstrittene) Marktdaten, an denen sich große Produzenten, Händler und Vermarkter in der Branche orientieren. 9,3 Millionen Flaschen sind etwa 16% mehr (ca. 1,2 Millionen Flaschen) als noch 2015. Im selben Zeitraum stieg der Durchschnittspreis einer Flasche von ziemlich exakt 10 Euro auf ungefähr 11,30 Euro, ein durchaus offensichtliches Zeichen für die tatsächliche und vielbesungene Premiumisierung des Segments. Man darf also getrost von zwei fortschreitenden Trends sprechen: Absatz und Umsatz steigen.

Wobei der eine oder andere durchaus beim Durchschnittspreis staunen dürfte, das hat wenig mit den bekannten Highend-Backbars des urbanen Durchschnittsmixologen zu tun. Blickt man nun noch auf das gesamte deutschen Spirituosenangebot von jährlich fast 700 Millionen Flaschen in 2015 (Link), ist der tatsächliche Anteil von Gin am Kuchen immer noch marginal. Zum Vergleich: Vodka rangiert bei Nielsen jährlich mit knapp 80 Millionen, die gerne mal totgesagten Obstbrände bei immerhin noch über 20 Millionen Flaschen.

Zur Rettung der ginösen Hypevertreter sei noch betont, dass sich die gegebenen Nielsenzahlen aus hochgerechneten Scannerdaten des Lebensmitteleinzelhandels, der Cash & Carry Häuser (Metro o.ä.) sowie der Drogeriemärkte generieren. Der Absatz- und Umsatz in der Gastronomie kann darüber hinaus nur geschätzt werden und die eine oder andere (intransparent) verkaufte Discounterflasche muss zumeist auch noch im Kopf addiert werden. Letzteres würde den Durchschnittspreis aber auch nicht retten… Bei großen sowie gestandeneren – also aktuell weniger versatilen und nicht einem derartigen gastronomischen Hype unterworfenen – Kategorien würde ich davon ausgehen, dass die Nielsendaten gerne mal 70-80% des Gesamtabsatzes abbilden. Bei Gin oder vergleichbaren, sich stark diversifizierenden und noch im Aufbau befindlichen Kategorien dürfte der Prozentsatz irgendwo zwischen 60 und 70% liegen, diesbezüglich lasse ich mich aber gerne eines Besseren belehren.

Zwischenfazit: Sollte Gin tatsächlich in Zukunft bei den Großen mitspielen wollen, muss noch viel Wacholder gepflückt werden. Und ob die forcierenden Multiplikatoren aus Gastronomie, Handel und Industrie den Atem und die Muße haben, auch noch in Jahren Gin zu pushen, steht in der Kristallkugel. In einer schnelllebigen, trendgetriebenen und globalisierten Welt, auf der es noch viele Nischenprodukte zu erschließen gibt, ist Skepsis durchaus angebracht. Noch mal zum auf der Zunge zergehen lassen: der Durchschnittspreis von über 9 Millionen Flaschen Gin (dem Gros des Absatzes) lag 2016 in Deutschland bei 11,30 Euro! Ganz abgesehen davon gibt es im deutschen Markt keine Spirituosenmarke, die Millionen Flaschen absetzt, wenn dafür Preise über 30 Euro aufgerufen werden. Selbst die magische Marke von einhunderttausend Flaschen knacken nur wenige Qualitäten in dieser Preisklasse. Anders gesagt: Die aktuelle und zukünftige Marktrelevanz von Superduperpremiumgin wird von vielen schnauzbärtigen Barhoppern, urbanen Nighflys und yuppiesken Gin-Addicts nicht selten etwas kurzsichtig und einseitig betont.

Ausblick

Das war es aber auch schon mit meinem kurzen Realitycheck zur aktuellen Ginflut. In den kommenden Artikeln meiner Reihe „Noch ein Gin Artikel“  (wie viele es zu Gin werden, ist aktuell noch ungewiss) wende ich den Blick weit in die Vergangenheit, ins britische Empire des frühen 18. Jahrhunderts. Das wachsende Selbstbewusstsein der Inselbewohner, die fortgeschrittene Technik und die sich verändernde geopolitische Lage führten zu einer gesellschaftlichen wie politisch forcierten Produktionsexplosion und Trunkfreude, die in die Annalen als Gin Craze eingehen sollte. Ja, darüber wurde fast genau so viel getextet wie über den Gin-Hype unserer Zeit. Aber es gibt meines Erachtens doch noch die eine oder andere selten bis nicht erzählte Geschichte, die darüber hinaus an Aktualität sogar kaum verloren hat. In diesem Sinne schließe ich mit dem Zeitzeugen Daniel Defoe, der besonders für trinklaunige Historienfreunde ein großes Erbe auch abseits seines Hauptwerkes „Robinson Crusoe“ hinterließ.

„So hasty showers, when they from heaven flow down,
Are sent to fructify, and not to drown;
And in the torrent if a drunkard sink,
`Tis not the brook that drowns him but the drink.
But twou‘d be hard, because the sinner‘s slain,
For fear of drowning, we must have no rain.“

Steffen Hubert

Steffen Johann Hubert ist ehemaliger Mixology Magazin Autor und Bar Convent Berlin Mitarbeiter, für die bekannte Messe war er u.a. als Speaker und Moderator aktiv. Ab 2012 stand er für fast fünf Jahre im Dienste des Hamburger Spirituosenhauses Borco. Heute verdient er seine Brötchen abseits den Hinterzimmern der Spirituosenindustrie, was es ihm ermöglicht, seinen Erfahrungsschatz wieder als Autor einzubringen, natürlich auf trinklaune.de

Saramago

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